Im Jugendstrafrecht kommt der Frage, ob auf einen Heranwachsenden unter 21 Jahren noch Jugend- oder schon das Strafrecht für Erwachsene anwendbar ist, deshalb eine herausragende Bedeutung zu, weil dies maßgeblich über den Strafrahmen entscheidet.
Jugendliche und Heranwachsende
Kinder unter 14 Jahren sind strafunmündig – dies ist geregelt in § 19 StGB. Gegen sie ist eine Strafverfolgung daher unzulässig. Für Jugendliche, die zur Tatzeit 14-17 Jahre alt waren, ist nach § 1 Abs. 2 JGG ausschließlich Jugendstrafrecht anwendbar.
Auf Heranwachsende zwischen 18 und 20 Jahren werden nur die Normen des Jugendstrafrechts angewendet, auf die in den §§ 105 ff. JGG verwiesen wird. Fehlt es also an einem Verweis, wendet der Richter Erwachsenenstrafrecht an. Die Rechtsfolgen einer Tat sind in § 105 JGG geregelt. Hiernach ist stets zu prüfen, ob der Heranwachsende von seinem Reifezustand zur Tatzeit (!) im Hinblick auf dessen konkrete Tat noch einem Jugendlichen gleichzustellen war oder ob er eine jugendtypische Tat – eine sogenannte „Jugendverfehlung“ – begangen hat.
Ermittlung des Reifestandes im Jugendstrafrecht
Der Reifestand ist mittels einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit in Bezug auf die sittliche oder geistige Entwicklung festzustellen. Es handelt sich insofern um ein täterbezogenes Merkmal. Hierbei ist seine Reife zum Tatzeitpunkt maßgeblich – ob diese später in der Hauptverhandlung eingetreten ist, ist folglich irrelevant. Waren bei einem Heranwachsenden demnach noch „Entwicklungskräfte in größerem Umfang wirksam“, ist er einem Jugendlichen gleichzustellen.
Demgemäß ist nicht entscheidend, ob er generell das Bild eines noch nicht Achtzehnjährigen bietet. An der folglich gebotenen Persönlichkeitserforschung ist fortlaufend die Jugendgerichtshilfe beteiligt. Hierzu werden im Vorfeld einer Hauptverhandlung Gespräche mit dem Heranwachsenden geführt, um seine Person, sein Umfeld und seine Lebenssituation zu ergründen. Auf der Marburger Tagung der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie sind bereits 1954 Richtlinien erarbeitet worden, die Richtern bis heute als Anhaltspunkte für die zu treffende Einordnung bieten.
Hinweise die gegen eine Gleichstellung mit einem Jugendlichen sprechen sind z.B.:
- eine gewisse Lebensplanung,
- Fähigkeit zu selbstständigem Urteilen und Entscheiden,
- Kompetenz zu zeitlich überschauendem Denken,
- Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu unterbauen,
- ernsthafte Einstellung zur Arbeit,
- gewisse Eigenständigkeit zu anderen Menschen usw.
Besonders jugendtypische Charakterzüge können u.a. sein:
- ungenügende Ausformung der Persönlichkeit,
- Hilflosigkeit (die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt),
- naiv-vertrauensseliges Verhalten,
- für den Augenblick leben,
- starke Anlehungsbedürftigkeit,
- spielerische Einstellung zur Arbeit,
- Neigung zum Tagträumen,
- Hang zu abenteuerlichem Handeln,
- Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen,
- mangelhafter Anschluss an Altersgenossen (usw.)
Im Zweifel Jugendstrafrecht bei Heranwachsenden
Es kann aber durchaus vorkommen, dass im Rahmen der Würdigung gewisse Zweifel nicht ausgeräumt werden können. In solchen Fällen soll nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings nach dem Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ zwingend das Jugendstrafrecht bei Heranwachsenden zur Anwendung kommen.
Jugendstrafrecht als das stets mildere Recht?
Der Wortlaut und die Konzeption des § 105 JGG deutet indessen auf die Anwendung von Jugendstrafrecht als Ausnahme hin, sodass hiernach im Zweifelsfall Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommen müsste. Schließlich soll der Jugendrichter nur dann Jugendstrafrecht anwenden, wenn auch die Voraussetzungen der Nummern 1 oder 2 vorliegen. Letztlich ist die Anwendung von Jugendstrafrecht nicht immerzu das mildere Recht. Eine Verfahrenseinstellung gemäß §§ 153 f. StPO zum Beispiel bleibt lediglich im staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister für maximal zwei Jahre gespeichert. Eine Einstellung nach den korrespondierenden Vorschriften im Jugendgerichtsgesetz – §§ 45, 47 JGG – hingegen wird im Erziehungsregister des Betroffenen vermerkt. Die Registerbehörde entfernt den Eintrag, sobald derjenige das 24. Lebensjahr vollendet.
Jugendverfehlung
Eine „Jugendverfehlung“ ist anzunehmen, wenn in der jeweiligen Art und Ausprägung der Straftat typisch jugendliche Verhaltensweisen objektiv nach außen erkennbar sind, insbesondere Raufereien sowie leichte Körperverletzungen. Oder die jugendtypischen Verhaltensweisen aus den jeweiligen Beweggründen folglich subjektiv hervortreten – zu nennen sind z.B. leichte Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz aus unreifem Geltungsbedürfnis. Auch sind hierunter die „aus den Antriebskräften der Entwicklung entspringenden Entgleisungen“ (BGHSt 8, 90) zu verstehen. Resultierend hieraus ist die Annahme einer Jugendverfehlung somit keineswegs von vornherein bei bestimmten Straftatbeständen ausgeschlossen; zumal fast jeder Straftatbestand aus jugendlichem Leichtsinn, Unachtsamkeit oder aus einem Gruppenzwang heraus begangen werden kann. Es handelt sich im Unterschied zum Reifestand um ein tatbezogenes Merkmal.
Mord und schwere Gewaltdelikte – eine Jugendverfehlung?
Selbst Verbrechen wie Mord, Totschlag oder sonst schwere Gewalttaten können nach dem äußeren Erscheinungsbild oder den Beweggründen des Täters Merkmale typisch jugendlicher Unreife aufweisen. Die Annahme einer Jugendverfehlung ist mithin nicht per se ausgeschlossen. Schließlich offenbart sich jene Unreife insbesondere in einem Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen – was sich sehr häufig in fehlender Beherrschung niederschlägt.
Kriterien, die nicht selten auf eine Jugendverfehlung hindeuten sind:
- gruppendynamische Prozesse
- unüberlegtes Vorgehen im Hinblick auf die Verwirklichung der Straftat
- leichte Beeinflussbarkeit des Handelnden
Jugendverfehlung als Beweiserleichterung
Aufgrund der Systematik des § 105 JGG könnte man freilich annehmen, dass zwischen der Nr. 1 (Reifestand) und der Nr. 2 (Jugendverfehlung) ein Rangverhältnis bestünde. Mit der Konsequenz, dass immer zunächst durch das Gericht der Reifestand des Heranwachsenden umfassend zu ermitteln wäre. Dem ist indes nicht so. Beide Varianten müssen auch nicht etwa kumulativ vorliegen. Liegt tatsächlich eine Jugendverfehlung auf der Hand, kommt es auf eine Bestimmung der Reife zur Tatzeit nämlich nicht mehr an. Da die konkrete Tat – die Beweggründe der Beteiligten und ihr äußeres Erscheinungsbild – wesentlich leichter zu bewerten ist, als der individuelle Reifezustand einer Person zur Tat, bietet es sich somit an, immer zunächst eine Jugendverfehlung auszuschließen, bevor mit der Ermittlung des Reifegrades begonnen wird.
Aus alledem resultiert: Ein Heranwachsender, dessen Reife zum Tatzeitpunkt der eines Erwachsenen entsprach, kann eine Jugendverfehlung begehen – mit der Anwendung von Jugendstrafrecht bei Heranwachsenden als Konsequenz.